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Scheidung

Sieben Schritte zu Graffs schwieriger Scheidung

Ende der Ehe in Ratsdokumenten

Maria Sibylla Merianin hat auf dem Landgut Waltha in Friesland endgültig einen Schlussstrich unter ihre Ehe als „Frau Gräffin“ gezogen. Bei den Labadisten wurden nur Ehen anerkannt, wenn dort beide Ehepartner zusammen lebten. Da Graff nicht in die Gemeinschaft aufgenommen wurde, war die Sachlage für die Mitglieder der Gemeinschaft klar: Die Ehe bestand für sie nicht mehr.

Unscheinbar, aber eindeutig ist auch auf dem Titelkupfer des ersten Raupenbuchs zu erkennen, wie die Merianin immer eigenständiger wurde. Auf der Kupferplatte wurden auf den unteren Maulbeer-Zweigen nach dem Scheitern der Ehe die beiden Teile der Inschrift getilgt, die an diesen Abschnitt ihres Lebens erinnerten „Gräffin“ und „geb.“, denn sie hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen. Noch später wurde ihr Name auf „Merian“ (ohne „in“) verkürzt, denn in Amsterdam waren weiblichen Endungen des Familiennamens bei Frauen nicht üblich (1).

Wie wichtig diese Selbstständigkeit für „Frau Merian“ war, zeigt eine notarielle Urkunde von 1699 mit einem neuen Testament vor ihrer Abreise nach Surinam. Dort ließ sie sich als „Witwe“ bezeichnen, obwohl Johann Andreas Graff noch lebte (2).

Ursprüngliche Inschrift 1679

Zweiter Zustand des Titelkupfers

Dritter Zustand des Titelkupfers

Westfassade des Rathauses, erbaut 1616-1622, fünf Jahrzehnte bevor die Familie Graff-Merianin nach Nürnberg umzog
Foto: Christine Dierenbach

Ostfassade des „Alten Rathauses“, Ausschnitt mit Fenstern der Ratsstube, dem damaligen politischen und administrativen Machtzentrum Nürnbergs
Foto: Dieter Lölhöffel

Graff dagegen konnte sich lange Zeit nicht mit dem Scheitern seiner Ehe abfinden. Er suchte Kontakt zu dem Rechtsberater seiner Frau in Frankfurt (1688). Sogar der Rechtskonsulent der Stadt Nürnberg schaltete sich ein, um Graff zu unterstützen. 1690, also ungefähr vier Jahre, nachdem die tief religiöse Labadistengemeinde ihn in Waltha zurückgewiesen hatte, schrieb Graff einen extrem langen Brief an den Rechtsbeistand seiner Frau in Frankfurt. Auf drei eng beschriebenen Seiten, die in der Universitätsbibliothek Frankfurt aufbewahrt werden (3), können wir heute noch nachlesen, wie verzweifelt er war und wie sehr er sich um seine jüngere Tochter bei den strengen Labadisten sorgte. Aber alle seine Bemühungen waren vergebens.

Zuständig für eine Scheidung war für ihn der Nürnberger Rat. Es gab damals keine übergeordnete Instanz, die das Ehepaar für beide verbindlich scheiden konnte. Nürnberg war ein eigener Stadtstaat mit eigener Rechtsprechung und seine Frau lebte im weit entfernten „Ausland“. Ohne eine legitimierte Trennung von seiner Frau konnte Graff nicht wieder heiraten.

Einerseits benötigte er als ehrbarer Bürger für sein Hauswesen wieder eine „Ehewirtin“, aber andererseits war eine Scheidung damals ein seltenes und kompliziertes Verfahren. In Nürnberg wurde es kontinuierlich von dem Ratsgremium als oberster Instanz kontrolliert.

Erst 1692 versuchte Graff einen Ausweg aus seiner schwierigen Situation zu finden, indem er ein Gesuch auf Scheidung an den Nürnberger Rat stellte. Dieser Antrag wurde in einem „Ratsverlass“ mit Verweis an das zuständige Ehegericht angenommen. Ein kompliziertes Verfahren begann, das kontinuierlich von dem obersten Ratsgremium in Nürnberg kontrolliert wurde.

Insgesamt konnten bisher sieben solche Stellungnahmen der Stadtspitze in den Ratsverlässen (= Sitzungsprotokollen) gefunden werden. Sie protokollieren den Ablauf des Verfahrens (4).

1. Graffs Antrag auf Scheidung wurde zugelassen (18.08.1692)
2. Gutachten von zwei Ratskonsulenten, den amtlichen Rechtsberatern des Stadtrates, wurden eingeholt und anschließend wurde darüber beraten (19.01.1694)
3.-5. Dreimal wurde mit Amsterdam Kontakt aufgenommen, um die „Gräffin“ über das Verfahren zu informieren und von ihr eine Stellungnahme zu erhalten, die jedoch nicht eintraf (20.02., 01.03., 31.03.1694)
6. Als die Fristverlängerung ohne Antwort verstrichen war, wurden die Ratskonsulenten
erneut befragt (11.04.1694)
7. Erst danach wurde das Scheidungsurteil in Nürnberg und Amsterdam „publiziert“ (30.05.1694).

Nach damaliger Rechtsauffassung sprach alles für Graff und gegen seine Frau, dem „von ihm zu den Labadisten entwichenen Weib“. Trotzdem wollte der Rat auch in diesem Fall seinem eigenen Leitspruch folgen und beide Teile hören, selbst wenn der andere Teil (nur) eine Frau war. Deshalb versuchte der Rat über seine guten Beziehungen zu Amsterdam Kontakt mit der „Frau Gräffin“ aufzunehmen, aber sie antwortete nicht. So verzögerte sich das Verfahren noch mehr und es dauerte insgesamt mehr als 21 Monate, bis die Scheidung mit folgendem Wortlaut rechtskräftig wurde: „Der Herrn Hochgelehrten EE. ausgestellten Gutachten gemäß soll man mit der Publicirung des in Johann Andreas Grafen wider sein trünniges weib am Ehrlöbl Stadt u. Ehegericht ergangenes Urthels verfahren“.

Am 10. Juni 1694 wurde Graffs neue Eheschließung proklamiert (öffentlich angekündigt) und zwei Wochen später wurde die neue Ehe eingesegnet. Seine zweite Frau Anna Maria (1666-1711), war dreißig Jahre jünger als er. Vielleicht hat sie als Tochter des Illuministen Hoffmann (5) sogar an einigen seiner „altkolorierten“ Kupferstiche mitgearbeitet, die nach Graffs Zeichnungen bei Kraus in Augsburg entstanden und zum Illuminieren nach Nürnberg kamen.

Die Tür im Alten Rathaussaal (6) zur Ratsstube mit Leitspruch: „Eins manns red ist eine halbe red Man soll die teyl verhören bed“
Foto: Ferdinand Schmidt

Entscheidungen des Rates der Stadt Nürnberg

IN DEN HISTORISCHEN RATSPROTOKOLLEN

Ratsverlass 2936, Blatt 2r+2v

Scheidungsantrag von Graff und Weiterverweisung an das zuständige städtische Gericht

Dem Antrag von Graff wird stattgegeben, d. h. er darf bei dem zuständigen Gericht seine Scheidung beantragen.

Johann Andreas Graffen, Mahlern,

[Fortsetzung 2v]

welcher ansuchet, daß er von seinen nun
über 7. Jahr von ihm zu denen Labadisten
entwichenen Weib, absque strepitu iudicii *)
totaliter möchte geschieden werden, soll
man mit solchem Begehren ab- und ihn zu
ordentlicher Ausführung an das Ehrlöb[liche]
Stattgericht verweißen.
Burgerm[meister]: Jun[ior]:

*) ohne den Lärm des Urteils = ohne öffentliches Verfahren

Ratsverlass 2954, Blatt 101v

Einholung von Gutachten von zwei Stadtkonsulenten zur Scheidungssache

Wegen des stadtgerichtlichen Scheidungsurteils werden noch juristische Stellungnahmen von zwei offiziellen Rechtsberatern des Rates eingeholt, bevor über die Publizierung (Verkündung) entschieden wird.

Die am Ehrlöb[lichen]. Stadtgericht
geschöpfte Urthel in Sachen
Johann Andreas Grafen
contra uxorem divortii,
Soll man samt denen
übrigen Actis für Herren
DDr. *) Fezers und Silber=
radts E E. auch, da es nö=
thig noch für einen andern
außer dem Stadtgericht
bringen, zu überlegen, ob
solche zu publicirn seyn
möge.
G. B. Haller

*) Doctores = Dr. Fezer + Dr. Silberradt.

Ratsverlass 2955, Blatt 105r

Bemühungen um eine Stellungnahme der Ehefrau durch Schreiben nach Amsterdam

Wegen des stadtgerichtlichen Scheidungsurteils soll Maria Sibylla Gelegenheit zu einer Antwort gegeben werden.

Die am Ehrlöb[lichen]. Stadtgericht
geschöpffte Urthel in Sachen
Johann Andreas Grafen
contra uxorem divortii,
ist auf Einholung der
Herren Hochgelehrten EE,
rechtlichen Bedenckens
confirmirt, ratione publi=
cationis aber ertheilt,
mit der Citatione Edictali
der Gräfin, noch zurück
zuhalten, hingegen durch
nochmalige Subsidial Schrei=
ben an den Magistrat zu
Amsterdam, von dem Ehr=
löb[lichen]. Stadtgericht aus,
derselben Anherstellung
auf einen gewiesten Tag,
ad audiendam sententiam
zu begehren, im Fall Auß=
bleibens, mit der Publi=
cation zu verfahren, in=
zwischen das von Herrn Dr.
Fezers E. aufgesezte,
an die Stadt Amsterdam lautendes [sic!]
Schreiben, deme die Stadt=
gerichtliche subsidiales bey
zuschließen, ausfertigen,
u[nd]. der im Bedencken besche=
henen Erinerung nach
bestellen zulaßen.
G. B. Haller .
Rathschr[eiber]

Ratsverlass 2956, Blatt 37r

Weiteres Warten auf eine Stellungnahme „der Gräfin“

Wegen des Scheidungsurteils soll weiterhin auf eine Reaktion aus Amsterdam gewartet werden, aber gleichzeitig sollen Vorbereitungen für weitere Schritte im Verfahren getroffen werden.

Weiln die Citatio Edicta=
lis, in sachen Joh: Andreae
Grafens 9*) uxorem, Ma=
ria Sibylla Gräfin, in
p[unct]õ divortii, dem Verneh=
men nach, albereit gehö=
riger orten angeschlagen
worden = und ihro abschrifft=
lich zu Handen kom[m]en seyn
solle; Als ist verlaßen,
mit abschickung deß an
den Löb[lichen]. Magistrat zu
Ambsterdam destinirt[en]
Subsidial-schreibens noch
in etwas zurückzuhalt[en],
die bey den Actis befind=
liche Schreiben aber an
das E[hrlöblichen]. Stadt= und Ehege=
richt zu geben, und das=
selbe anzuweisen, wann
die Gräfin nicht erscheinen
oder sonsten die nothdurfft
zuverfügen ermangeln
würde, es hinwied[er]umb
zuberichten, wie Herrn
Dr. Fetzers und H[errn]. Dr. Sil=
berrads E. E. an Hand
gegeben.
G. B. Haller:

*) Kürzel für „contra“ = gegen

Ratsverlass 2957, Blatt 51r

Nochmalige Anhörung der Ratskonsulenten trotz fehlender Reaktion der Ehefrau

Da Graffs Ehefrau auf dreimalige „Vorladung“ nicht reagiert hat, soll die Bitte Graffs um Eröffnung des Scheidungsurteils geprüft werden.

Über des Herrn Richters,
Assessorum und Schöpffen
am Ehrlöb[lichen] Stadtgericht
übergebenen Bericht, dz.*)
des Johann Andreas Gra=
fens Eheweib auf drey=
malige citation nicht er=
schienen, daher derselbe
nun Eröffnung der Ur=
thel in contumacione wie=
der sie bitte, soll man
der Herren Hochgelehrten
EE. die in dieser Sache ge=
höret worden, beyräthige
Mainung vernehmen,
ob hierinnen zu willfahrn
seye. G. B. Haller

*) „dz“ = Kürzel für dass

Ratsverlass 2958, Blatt 7r

Entscheidung über die Zustellung des Scheidungsurteils an Graff und nach Amsterdam

Das stadtgerichtliche Scheidungsurteil soll Johann Andreas „Grafen“ zugestellt werden. Auch die „Gräfin“ (= Maria Sibylla Merian) soll über die Entscheidung über Johann Lutter als Mittelsmann in Amsterdam und zwei dort benannte Zeugen unterrichtet werden.

Der Herren Hochgelehrten E.
erstatteten Rechts Bedencken
nach, soll man den Johann
Andreas Grafen, Mahler,
anweisen, von Johann
Lutter zu Amsterdam,
und deßen beeden, von dem=
selben benannten Zeugen
ein Instrumentirtes Attestat
daß der Maria Sibylla
Gräfin die hier affigirte
Edictal citation in Abschrifft
zugestellet worden, beyzu=
bringen, damit daßelbe
ad Acta geleget, u. ferner
verfahren werde.
G. B. Haller.

Ratsverlass 2859, Blatt 87r

Entscheidung über die Publizierung des Scheidungsurteils

„Johann Andreas Graffs Ehe wurde 1694 rechtskräftig geschieden. Seit Jahresanfang ergingen dazu mehrere Ratsverlässe, der letzte am 30.5.1694. Wenige Tage danach ging Johann Andreas Graff eine zweite Ehe ein.“
(Zitat von Friedrich von Hagen; Quelle siehe unten)

Der Herren Hochgelehrten EE. aus=
gestellten Gutachten gemäß
soll man mit Publicirung
des in Johann Andreas
Grafen wider sein trün=
niges weib am Ehrlöb[lichen]. Stadt u[nd].
Ehegericht ergangenen
urthels verfahren, zu=
vor aber die im beden=
cken ernante beede Schreiben
wie anhand gegeben re=
cognosciren laßen.
G. B. Haller.

Quelle zur Transkription von allen sieben hier gezeigten Ratsverlässen: Friedrich von Hagen, StadtAN E10/133 NL 49, „Gra“ (nicht publiziert), überarbeitet von Gunther Friedrich, Karl Kohn und Margot Lölhöffel

vgl. auch Hagen, Friedrich von, Genealogien und Viten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, in: Tacke, Andreas (Hg.), Der Mahler Ordnung und Gebräuch in Nürnberg, Die Nürnberger Mahler(zunft)bücher ergänzt durch weitere Quellen, München – Berlin 2001, S. 420f – ISBN 3-42206343-9

  1. Erster Zustand: UBErlangen, H62/CIMB P 38; zweiter Zustand: Frankfurt, UB Senckenberg, W 58; dritter Zustand: StaatsB Bamberg, Rar 103; Abbildung des gesamten Titelkupfers im Kapitel „Leben und Werk“ und „138 Kupferstiche“
  2. Reitsma (2008), niederländische Ausgabe, S. 172: „Juffr. Maria Sibilla Meriaen Wed. Van Johan Andries Graef“
  3. Archivzentrum der Universität Frankfurt a. M., Signatur UBA Ffm, Na 31, Mappe 330, abgedruckt, transkribiert und ausgewertet in Graff-Katalog (2017), S. 84 ff
  4. Einzelheiten in Archivalien 1 bis 7: StaatsAN, Reichsstadt Nürnberg, Ratsverlässe, 2936, Blatt 2r-2v (=1); 2954, Blatt 101v (=2); 2955, Blatt 105 (=3); 2956, Blatt 37 (=4); 2957, Blatt 51 (=5); 2958, Blatt 7 (=6); 2959, Blatt 87 (=7)
  5. StaatsAN, Reichsstadt Nürnberg, Ratsverlässe, 2959, Bl. 87, 30.05.1694, ausgewertet bei Tacke (Kun 2001) darin Friedrich von Hagen, Viten (Stichwort Graff), S. 420
  6. Foto 1905, mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Nürnberg, Sig. A47 Nr. KS-81-4
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