Erinnerungsorte in Nürnberg
In Nürnberg lebte das Ehepaar Graff und Gräffin 14 Jahre und hier wurde 1678 die zweite Tochter geboren. In dieser Zeit entwickelte Maria Sibylla unterstützt von ihrem Mann und der Nürnberger Stadtgesellschaft ihr Lebensthema: die Beobachtung von Insekten und ihrer natürlichen Entwicklung.
An einigen Orten in Nürnberg ist die Erinnerung noch lebendig.
Leben und Arbeiten im Haus am Milchmarkt
Auszug aus dem Nürnberger Stadtplan 1793 (4)
grüner Kreis: Meriangarten, roter Kreis: Bergstraße 10
1668 brachte Graff seine junge Frau und ihre erste kleine Tochter, Johanna Helena, von Frankfurt in seine Geburtsstadt Nürnberg. Dort wurde 1678 ihre zweite Tochter, Dorothea Maria, geboren, und sie blieben zusammen bis 1682 in Nürnberg. Graff stammte aus einer Familie, die einen guten Ruf genoss; er war der Sohn eines Gymnasialdirektors und eines Poeta laureatus.
Aber wo haben sie gelebt? Im Kirchenarchiv finden wir eine Notiz, dass Graffs Mutter 1649 in Nürnberg „auf dem Milchmarkt“ (heute Albrecht-Dürer-Platz mit nördlichem Teil der Bergstraße) gestorben war (1). Dort muss ihr Sohn Johann Andreas einen großen Teil seiner Kindheit verbracht haben. Er starb 1701, ebenfalls „auf dem alten Milchmarkt“ (2). Offensichtlich war das Haus, in das die junge Familie Graff 1668 einzog, viele Jahre im Besitz der Familie. Es gibt jedoch viele Häuser am Alten Milchmarkt, und jahrhundertelang wusste niemand, welches davon das Haus der Familie Graff gewesen war.
Erich Mulzer, ein kenntnisreicher Historiker der Nürnberger Geschichte und langjähriger Vorsitzender der Nürnberger Altstadtfreunde, hat mit Unterstützung des Hausforschers Karl Kohn die genaue Lage des Graffschen Wohnhauses durch akribische Archivforschung nachgewiesen (3): Bevor die Häuser Nummern erhielten, hieß es „Haus zur goldenen Sonne“, weil es lange vor dem Erwerb durch die Graffs ein Wirtshaus gewesen war.
Die kleine Gasse östlich dieses ‘eckfreien’ Hauses hieß „Sonnengäßlein“ und verband die „Obere Schmidgasse“ mit dem „Oberen Milchmarkt“.
Auszug aus dem Nürnberger Stadtplan 2014 (4)
grüner Kreis: Meriangarten, roter Kreis: Bergstraße 10
Das Haus der Familie Graff, Bergstraße 10
Erinnerungstafel am Haus Bergstraße 10
Im Herbst 2023 hat die Stadt Nürnberg auf der Tafel links im unteren Teil zusätzlich einen QR-Code anbringen lassen. Mit bescheidenen 5 x 5 cm und goldfarben perfekt angepasst fügt sich das Quadrat harmonisch ein.
Fotos: Dieter Lölhöffel
Als die Häuser der beiden Stadthälften am Ende der reichsstädtischen Zeit durchnummeriert wurden, erhielt es die Nummer „S(ebald) 443“. Das Vorderhaus blieb als eines der wenigen historischen Fachwerkhäuser in der Altstadt im Zweiten Weltkrieg unzerstört, heutige Adresse: Bergstraße 10.
An den Obergeschossen ist die Verblattung (nicht Verzapfung) des Fachwerks deutlich zu erkennen, ist also in die Zeit vor 1520 zu datieren. Durch dendrochronologische Untersuchung wurde nachgewiesen, dass dieses Haus einschließlich der heutigen Obergeschosse schon bis 1412 errichtet worden war (5).
Nur das Erdgeschoss aus Stein wurde verändert, und im ersten Obergeschoss wurde das Fachwerk später ausgetauscht (verzapft, also nach 1520), aber der Gesamteindruck ist seit der Zeit der Graff-Merianin-Familie weitgehend unverändert. Es erscheint wie ein Wunder, dass das Haus die fast vollständige Zerstörung dieses Viertels im Zweiten Weltkrieg überlebt hat.
Unterhalb der Burg ist dieses Haus wegen seiner neuen Gedenkplatte leicht zu finden, die 2019 angebracht wurde.
In diesem weiträumigen Haus gab es viel Platz für die Aktivitäten des Ehepaares:
- Maria Sibylla versorgte ihre Raupen mit großer Sorgfalt mit dem Grün ihrer speziellen Wirtspflanzen, das in den Gärten und der Landschaft um ihr Haus gesammelt wurde. Sie beobachtete ihre Metamorphosen, zeichnete sie und schrieb Notizen über die Veränderungen.
- Johann Andreas schuf Stadtansichten, beide malten und mussten hierfür auch aufwändig Farben zubereiten.
- Sie bearbeiteten Kupferplatten für ihre Stiche, die evtl. sogar auf einer eigenen Presse im Haus gedruckt wurden.
- Johann Andreas unterrichtete Schüler und Maria Sibylla Schülerinnen (6) im Zeichnen und Malen, vielleicht auch im Kupferstechen, Maria Sibylla zusätzlich auch noch im Sticken, der „Nadelmalerei“.
In Nürnberg war es nicht ungewöhnlich, dass auch Frauen unterrichteten, denn es gab schon lange Schreib- und Rechenmeisterinnen für die weibliche Jugend. Insbesondere nachdem die Klöster nach der Reformation keine Novizinnen mehr aufnehmen durften und langsam ausstarben, konnten patrizische Väter ihre Töchter nicht mehr auf Zeit dorthin zum Unterricht geben. Bis zur Reformation war dies üblich, ohne dass sie als Nonnen ins Kloster eintreten mussten. Im lutherischen Nürnberg galt Müßiggang als Laster, und sogar die Mädchen der Oberschicht sollten etwas Nützliches lernen. Zu Maria Sibyllas ‘Jungfern Combannÿ’ (7) gehörten Mädchen der Ratsgeschlechter wie Clara Regina Imhoff (8) sowie des kunstgewerblich tätigen Bürgertums, wie beispielsweise eine Tochter des Kunsthändlers und Verlegers Paul Fürst (9).
Die vielen Fenster des Hauses waren nicht nur vorteilhaft für die Belichtung der Werkstätten: Hier wurden auch Insekten in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen gesammelt und regelmäßig mit den jeweils speziellen Zweigen, Blättern, Blüten, Pflanzen versorgt, von denen sie sich in der Natur ernähren. Die optimale Aufbewahrung in Schachteln, ihre regelmäßige Versorgung mit Nachschub an passender Nahrung, die Beobachtung ihrer Entwicklung oft über etliche Monate und schließlich das Einfangen, Töten und Präparieren der geschlüpften Insekten war eine komplexe und zeitraubende Arbeit, bei der sicher nicht nur ihr Mann und ihre ältere Tochter, sondern Schülerinnen (und auch Schüler?) geholfen haben.
Mit dem neuen QR-Code verbindet die Stadt Nürnberg zum ersten Mal die traditionelle Gestaltung einer geschichtlichen Erinnerung an einer Hauswand mit solch einer modernen Informationsquelle. An der Bergstraße 10 lässt sich nun über den QR-Code die gesamte Merianin-Webseite in Deutsch und Englisch öffnen. Menschen, die sich auf ihren Stadtspaziergängen gern im Worldwide Web orientieren, können nun vor Ort zusätzlich in der Welt der Merianin surfen.
Es ist ein Glücksfall, dass der „Kaufbrief“, mit dem sich die verwitwete zweite Frau von Johann Andreas Graff von dem „Haus zur goldenen Sonne“ trennte, in einem dicken Folianten im Stadtarchiv erhalten geblieben ist. Nach mehr als 60 Jahren im Besitz der Familie Graff bekam das „Haus zur Goldenen Sonne“ einen „Notar und Arithmeticus“ zusammen mit dessen Frau (!) als neue Eigentümer.
Bei genauem Hinsehen fängt dieses Haus sogar selbst an, aus seiner Geschichte zu erzählen. Ein anerkannter Experte für historische Bürgerhäuser in Nürnberg, Dipl.-Ing. Architekt Michael Taschner, hilft uns dabei, denn er hat uns erlaubt, den Ausschnitt über die Bergstraße 10 aus einem bereits gedruckten Artikel (10) auf unsere Webseite zu übernehmen.