Gemeinsames und Trennendes
Übersicht – Zweiter Teil
2. Erfolg, Krise und getrennte Wege
2.1 Die letzten Jahre der Gräffin bis 1682 in Nürnberg
2.2 Ein langer Familienbesuch von Jacob Marrell
2.3 Graffs erste Meisterstiche
2.4 Rückkehr nach Frankfurt
2.5 Graffs Pendeljahre bis 1685
2.6 Wendemonate 1685 / 1686
2.7 Scheitern der Ehe in der Labadistensiedlung in Friesland 1686
2.8 Fortdauernde Verbindungen mit Nürnberg
2.9 Die beiden Töchter von Merianin und Graff – Künstlerinnen auf weiten Wegen
Abkürzungen für Archive u. ä.
Abkürzungen für die Sparten der Literatur
Endnoten
Ergänzung zum Literaturverzeichnis im ersten Teil des Aufsatzes
Alltag in Nürnberg um 1680 festgehalten in Ausschnitten der „Großen Stadt-Prospecte“ von Johann Andreas Graff
Women on the Margins
(Lit 1995), S. 141
But she is a harder person to pin down …, since she left behind no autobiography, confessional letters, or artist’s self-portrait. Instead we must make use of the observing ”I” in her entomological texts and fill in the picture by attending to the people and places around her.
Drei Frauenleben
Übersetzung von Wolfgang Kaiser (Lit. 1996), S. 170
Aber sie läßt sich schwieriger fassen …, denn sie hat keine Autobiographie, keine Briefe mit persönlichen Bekenntnissen, kein Selbstbildnis als Künstlerin hinterlassen. Statt dessen müssen wir uns auf das beobachtende „Ich“ in ihren entomologischen Texten stützen und uns mit Hilfe der Menschen in ihrer Umgebung und der Orte, an denen sie sich aufhielt, eine Vorstellung von ihr machen.
2. Erfolg, Krise und getrennte Wege
2.1 Die letzten Jahre der Gräffin bis 1682 in Nürnberg
Gegen Ende der 1670er Jahre lebte Maria Sibylla als Ehefrau mit einer anerkannt „regulirten guten Haushaltungs-Führung“ (Joachim von Sandrart) (1) unter einer enormen Arbeitsbelastung. Gleichzeitig war sie Mutter, Geschäftsfrau, Zeichnerin, Malerin, Stickerin, Kupferstecherin, Lehrerin, Naturbeobachterin, Sammlerin, Präparatorin, Farbenspezialistin und Sachbuchautorin. Ohne fortwährende Unterstützung aus ihrem persönlichen Umfeld hätte sie es niemals schaffen können, innerhalb von nur vier Jahren drei Druckwerke fertigzustellen: 1677 den zweiten Teil des Blumenbuchs, 1679 das erste Raupenbuch und 1680 den dritten Teil des Blumenbuchs (zusammen mit den ersten beiden Teilen als Gesamtausgabe des „Neuen Blumenbuchs“).
Ihr wichtigster Helfer muss ihr Nürnberger Ehemann gewesen sein, der sich nicht darauf beschränkte, den in jener Zeit unverzichtbaren rechtlichen und finanziellen Rahmen für Publikationen seiner Ehefrau zu gewährleisten. Als ihr im Titelkupfer bzw. Titelblatt (2) genannter Verleger („zu finden bey …“) gehörte zu seinen Aufgaben:
- Kupferplatten und Papier kaufen
- mit Druckern wegen der Texte verhandeln und deren Arbeit bezahlen
- den Verkauf der (ungebundenen) Bücher organisieren usw.
Von ihrem elf Jahre älteren Partner, seiner detailgenauen Beobachtungsgabe sowie seiner langjährigen Erfahrung als Künstler, Kupferstecher und Radierer konnte Maria Sibylla viel lernen. Auf ihn war sicher auch Verlass, wenn tatkräftig bei der Schwerarbeit an der Druckerpresse angepackt werden musste, die wahrscheinlich in der Werkstatt zu ebener Erde im Haus „Zur Goldenen Sonne“ stand. Viele Schachteln auf den Fensterbänken für die Raupenzucht und die damit zwangsläufige häusliche Unordnung hat er nicht nur toleriert, sondern vielleicht auch seine ältere Tochter zusammen mit den Schülerinnen der „Jungfern-Companie“ immer wieder angeleitet: Nachschub von Blättern der jeweils spezifischen Futterpflanzen musste geholt und die Metamorphose beobachtet werden, damit Maria Sibylla die Sommervögelein (Tagfalter) und Motten (Nachtfalter) sofort nach dem ersten Entfalten ihrer Flügel fixieren und für ihre Studien präparieren konnte.
Die formale Gestaltung des ersten Raupenbuchs überrascht mit einer klaren Gliederung in Titelkupfer, Titelblatt, Lobgedicht, vierseitigem Vorwort an den „Hoch=werthen Kunst=liebenden Leser“. Dann folgen 50 Kupferstiche mit den auf eigenen Blättern zugeordneten ausführlichen Beschreibungen, ein weiteres Gedicht (das „Raupenlied“). Das Buch ist mit einem vierseitigen Register (deutsch), einem zusätzlichen Index (lateinisch) sowie auf dem letzten Blatt sogar mit Hinweisen für den Buchbinder und auf wenige zu berichtigende Druckfehler sorgfältig ediert. Dieser Qualitätssprung in der Gestaltung gegenüber den vorhergehenden Lieferungen der Blumenbücher ist ohne die Mitwirkung eines Fachmanns undenkbar. Als erfahrener Lektor hat Professor Christoph Arnold die Raupenbücher offensichtlich nicht nur durch seine Gedichte bereichert, sondern auch durch seinen Sachverstand mitgestaltet.
Trotz dieser vielfältigen Hilfe hat Maria Sibylla anscheinend oft am Rande eines Nervenzusammenbruchs gearbeitet. Im Rückblick schildert Johann Andreas Graff noch 1690 in einem Brief an einen Frankfurter Advokaten anschaulich solche Krisen:
„Hat Sie nicht selbst in Todtes Nöthen in Höchsten Satanischen Anfechtungen … gegen mich gesagt: Sie wolte das Alles Ihrige verbrennt würde in der Welt, vnd All Ihr Nahme von der Erden außgetilget, alß ich Sie aber mit dem H<eiligen>: Nahmen JESUS tröstete, Siehe so war Sie deß anderen Tags gesund! Vnd fande Sie spinnent, vnd ich dankte Gott darüber!“ (3)
Mitten in dieser arbeitsreichen Zeit wurde Maria Sibylla erneut schwanger und brachte Anfang Februar 1678, also zehn Jahre nach der Geburt der ersten Tochter, deren kleine Schwester Dorothea Maria in Nürnberg zur Welt. (4) Wahrscheinlich wurde sie in der Sebalduskirche in demselben Taufbecken wie Albrecht Dürer getauft, wenn die Eltern nicht eine Haustaufe bevorzugten. Dies war in Nürnberg durchaus möglich. Manche reformiert-pietistische Familien haben sich hierfür entschieden – und zu dieser Glaubensrichtung gehörten auch der aus Basel nach Frankfurt gekommene Matthäus Merian der Ältere sowie die Familie Heim(y) von Maria Sibyllas Mutter aus Runkel (an der Lahn). (5)
Taufpatin wurde die Malerin Dorothea Maria Auer (1641-1707), Tochter des Weinhändlers und Taufpaten von Johann Andreas. (6) Sie blieb zeitlebens unverheiratet, wie etliche andere künstlerisch tätige Frauen. Dieser Status galt in Nürnberg schon nicht mehr als Makel. Die Familie Auer war verwandtschaftlich in Nürnberg bestens vernetzt – ein guter Grund für die Graff-Merianin Familie, die „Jungfer Auerin“ als Taufpatin zu wählen und die zweite Tochter nach ihr zu benennen. Ein älterer Bruder, Johann Paul Auer (1638-1687), einer der Leiter der Malerakademie, war damals ein bekannter Maler, der auch Maria Sibylla unterrichtete.
Maria Sibylla hat sich kaum über ihr eigenes Leben geäußert, aber für zwei Albumblätter hat sie das Motiv der hundertblättrigen Rose aquarelliert, das oft als Darstellung verschiedener Lebensstufen von erblühender Knospe bis zu verwelkender Blüte gedeutet wird.
Albumblatt mit einer Rose (7)
Dem ersten Albumblatt von 1675 „für den Herrn Magister“ (ohne Namensnennung), also höchstwahrscheinlich für den Gelehrten Christoph Arnold, fügte sie den nachdenklichen Spruch rechts oben hinzu: „Deß Menschen Leben ist gleich einer Blum“.
Einen solchen Spruch, der eine Seelenverwandtschaft mit dem frommen Mentor andeuten könnte, gibt es auf dem zweiten Blatt von 1679 nicht. Es ist nur signiert und datiert. Die zweite Rose wirkt müder, Knospe und Stil berühren den Boden, der durch einen Schatten angedeutet wird. Vielleicht fühlte sich Maria Sibylla im Frühjahr 1679 ähnlich erschöpft. Trotzdem arbeitete sie unvermindert weiter. Tatsächlich waren nicht nur die Blumenbücher, sondern auch das erste Raupenbuch gefragt, denn bis heute sind Exemplare in vielen Bibliotheken zu finden, einige sogar im Nürnberger Raum. Maria Sibylla hat wegen dieser Nachfrage nach dem Erscheinen des ersten Raupenbuchs eifrig für das zweite Raupenbuch gesammelt, gestochen, beschrieben. Sie entwickelte sich immer mehr zu einer unabhängigen Persönlichkeit und bedankte sich im Vorwort des zweiten Raupenbuchs bei niemandem mehr für „wohlgeleistete Hilfe“. Dabei wird ihr wachsendes Selbstbewusstsein spürbar:
1679 ist ihr Name fast versteckt auf den Ästen des Maulbeerbaums, aber 1683 ist die Zeile „Maria Sibylla Gräffin sculpsit“ unter dem üppigen, von vielen Insekten besuchten Blumenkranz nicht mehr zu übersehen.
Ausschnitt aus dem Titelkupfer des ersten Raupenbuchs
Ausschnitt aus dem Titelkupfer des zweiten Raupenbuchs
2.2 Ein langer Familienbesuch von Jacob Marrell
Seit Herbst 1678 wohnte das Familienoberhaupt Jacob Marrell, der Lehrer von Maria Sibylla und Johann Andreas und für beide eine wichtige Vaterfigur, für längere Zeit bei den Graffs. Am 5. November 1678 genehmigte der Nürnberger Rat einen besonderen Antrag: Jacob Marrell wurde gestattet, „bey seinem Stiefaydam Johann Andreas Grafen alhier zu wohnen ….“ (8) Diese Aufenthaltserlaubnis als „Schutzverwandter“ war gebührenpflichtig, und der von seinem Schwiegersohn gestellte Antrag lässt darauf schließen, dass der Aufenthalt des Gastes auf längere Zeit geplant war.
Der Beweis für Marrells Anwesenheit in Nürnberg im Jahr 1679 ist die Zeichnung einer Heckenrose. Signatur und Datierung sind eindeutig: „In Nürnberg den 3. Juny. A° 1679 Jacob Marrell.“ Die Heckenrosen bilden zusammen mit der von Maria Sibylla gezeichneten hundertblättrigen Rose sowie der realistischen und zugleich stimmungsvollen Ansicht des Tiberufers mit römischem Tempel von Graff einen besonders hübschen Blickfang in demselben Album amicorum.
Christoph Arnold, der Vater des Eigentümers dieses Büchleins, wird respektvoll gewürdigt als „Ehrwürdiger und Hochgelährter Herr Professori“ (ohne Zusatz eines Namens).
Seine Ordensblume war die Heckenrose. Aber der humorvolle Vers rechts oben zeigt auch eine Verbundenheit auf Augenhöhe mit dem Sohn Andreas Arnold, vielleicht als Leitspruch vor Beginn seiner Cavalierstour durch europäische Städte?
„Rosen pflicken ist gemein (= normal),
doch von dörnern huet dich fein.“
Albumblatt mit Heckenrose (9)
Marrell hat im Haus „Zur goldenen Sonne“ eine Zeit lang am Familienleben mit den zwei (Stief-)Enkelinnen teilgenommen und er war in Nürnberg auch selbst als Künstler tätig.
Im Kunstmuseum Basel wird ein Bildnis aufbewahrt, das auf der Rückseite beschriftet wurde: „MARIA SIBYLA MERIAN AET · SVAE 32. ANNO 1679.“ Damals war Maria Sibylla tatsächlich 32 Jahre alt und stillte vielleicht noch ihre kleine Tochter.
Anhand stilistischer Vergleiche halten es Fachleute für plausibel, dass dieses Gemälde von Marrell stammt. (10) Die auf den Betrachter gerichteten ernsten, wachen Augen der nicht mehr ganz jungen Frau können durchaus zu ihr passen. Ihre farblich zurückhaltende Kleidung wurde nicht nur in den reformierten Niederlanden, sondern auch in Nürnberg, insbesondere von Frauen aus zugewanderten Exulantenfamilien (Glaubensflüchtlingen) getragen. Andere Porträts zeigen, dass der edle Perlenschmuck hierzu nicht in Widerspruch stand.
Bildnis der „Maria Sibyla [sic!] Merian“ (11)