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Künstlerfamilien

Von der großen Patchwork-Familie zur Kleinfamilie mit vier Künstler*innen

Die Eltern Graff und Merianin mit ihren Töchtern

Matthäus Merian der Ältere, der berühmte Zeichner, Kupferstecher und Verleger aus Basel, starb 1651 in Frankfurt und hinterließ eine große Familie: Die sechs Kinder aus seiner ersten Ehe, die das Erwachsenenalter erreichten, sind gemeinsam mit ihren Eltern (Portrait 1 + 2) auf dem figurenreichen Gemälde dargestellt, das sein ältester Sohn Matthäus Merian, der Jüngere (Portrait 3) malte.

Die Eltern, voller Respekt in antik anmutenden Gewändern gemalt, bilden den Mittelpunkt. Mit der Hand auf sich selbst weisend steht der junge Maler am linken Bildrand neben ihnen. Im Zentrum sitzt seine Mutter Maria Magdalena, geb. de Bry (1598-1645), die erste Frau seines Vaters. Der zweitälteste Sohn Caspar (Portrait 6) zeigt in der Mitte sein jüngstes Werk. Er war mit einer Nürnbergerin verheiratet und hat wahrscheinlich auch von Nürnberg aus an Vorlagen für die großen topographischen Werke seines Vaters gearbeitet. Nach seines Vaters Tod übernahm er zusammen mit seinem ältesten Bruder die Werkstatt und den Verlag in Frankfurt.

Caspar ist sein Leben lang in Kontakt mit Maria Sibylla geblieben. In Testamenten aus seinen verschiedenen Lebensabschnitten hat er auch seine jüngere Halbschwester bedacht. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er auf dem Landgut Waltha in Friesland in der reformierten Landgemeinde der Labadisten, wohin auch Maria Sibylla in seinem Todesjahr 1686 mit ihren Töchtern und ihrer alten Mutter auswanderte. Es ist nicht überliefert, ob sie den erblindeten Halbbruder Caspar dort noch lebend antraf.

Der Stammbaum über dem Ölgemälde enthält außerdem Angaben für die übrigen vier Kinder von Matthäus Merian dem Älteren aus seiner ersten Ehe, also für die Halbgeschwister von Maria Sibylla. Lebenslange Beziehungen bestanden insbesondere zu den Nachkommen von Maria Magdalena (Portrait 7), der Tochter aus erster Ehe am rechten Rand und den Eheleuten Graff-Merianin, wie im unteren Teil des Stammbaums zu sehen ist. Familienbande zwischen dem Schwiegersohn dieser Tochter und Merians (d. Ä.) jüngster Tochter Maria Sibylla sowie den Ehemännern, also zwischen Johann Andreas Graff und Johann Ulrich Kraus, waren eng mit beruflicher Zusammenarbeit weit über Frankfurt hinaus verwoben.

1649 hatten die 18 Jahre ältere Halbschwester von Maria Sibylla, Maria Magdalena Merianin, und Melchior Küs(s)el (2) geheiratet. Küsel war ein ehemaliger Lehrling und Geselle des alten Merian, der nach dessen Tod mit einer Abfindung die Werkstatt verließ. (3) Zusammen mit seiner jungen Frau kehrte er zurück in seine Vaterstadt Augsburg. Dort bildeten Küsel und sein Bruder Melchior Küsel nicht nur Gesellen, sondern auch mehrere Töchter zu tüchtigen Stecherinnen aus. Johanna Sibylla, die älteste von ihnen, konnte sogar nach dem Tod des Vaters seine erfolgreiche Werkstatt zwei Jahre lang selbstständig weiterführen. Erst 1685 kam durch die Heirat der 35-jährigen  mit dem 30-jährigen Johann Ulrich Kraus ein neuer Meister ins Haus (Stammbaum unten Mitte). Als Schüler ihres Vaters war er kein Fremder, und er galt als einer der besten Kupferstecher seiner Zeit. (4) Auch seine Frau arbeitete weiter als Stecherin, und ihr Ehemann lobte sie sogar in einem Buch – schwarz auf weiß! (5)

Stammbaum der Familien Merian-Graff-Küsel-Kraus zusammengestellt von Margot Lölhöffel mit Familienbildnis (1) von Matthäus Merian dem Jüngeren

Nach der Zurückweisung von Graff durch die Labadistengemeinde in Waltha und seiner Rückkehr nach Nürnberg ließ er für den Rest seines Berufslebens seine großartigen Stadtansichten in der Augsburger Kraus-Werkstatt stechen. So waren die Zeichnungen Graffs für die nächsten anderthalb Jahrzehnte in besten Stecher- und Drucker-Händen. Wie intensiv mag die Merian-Enkelin Johanna Sibylla in Augsburg an der Umsetzung der Graff-Zeichnungen in Kupferstiche beteiligt gewesen sein? In einem ihrer Briefe nennt Maria Sibylla Kraus „unnsser gutter freundt“. (6)

Am unteren rechten Rand des Stammbaums werden neben dieser Johanna Sibylla zwei weitere Schwestern und eine Cousine genannt, die eine gründliche berufliche Ausbildung (ohne förmlichen Lehrvertrag) erhielten. Wie es damals häufig vorkam, arbeiteten sie Jahrzehnte lang im Familienbetrieb und trugen erheblich zum Familieneinkommen bei. Maria Sibyllas Entwicklung von ihrer durch den Stiefvater in Frankfurt und dem Ehemann in Nürnberg unterstützten Entwicklung zur weltberühmten forschenden Künstlerin und unabhängigen Geschäftsfrau in Amsterdam blieb um 1700 jedoch eine Ausnahme.

Leider ist kein solches Familienbildnis von Matthäus Merian mit seiner zweiten Frau und ihrer gemeinsamen Tochter Maria Sibylla bekannt, wir wissen nur Lebensdaten, die wir zu einem Stammbaum zusammenfügen können:

Matthäus Merian der Ältere starb schon drei Jahre nach der Geburt seiner Tochter Maria Sibylla. Seine Witwe Johanna Sibylla heiratete ein Jahr später (1651) Jakob Marrell aus Frankenthal (85 km südlich von Frankfurt), der ebenfalls verwitwet war und eigene Kinder mit in die Ehe brachte. Er war ein anerkannter Blumenmaler und Kunsthändler und führte seine eigene Werkstatt. Johann Andreas Graff begann hier als Sechzehnjähriger 1653 seine Lehre und blieb bis 1658 in der Werkstatt Marrell. Danach ging er für sechs Jahre auf Wanderschaft nach Italien, um dort zu arbeiten und alles zu lernen, was damals in der Kunst neu und angesagt war. Nach seiner Rückkehr heirateten 1665 der 29-jährige Johann Andreas und die 18-jährige Maria Sibylla.

Mit den beiden Stammbaum-Übersichten ist der familiäre Rahmen umrissen, in dem seit langer Zeit zur Familie Merian und insbesondere über den Stammvater Matthäus Merian dem Älteren geforscht wird. Fachleute haben viele Fakten gesammelt und interpretiert. Auch die Jugend seiner berühmten jüngsten Tochter Maria Sibylla in Frankfurt sowie ihr letzter großer und erfolgreicher Lebensabschnitt in Amsterdam wurden durchleuchtet. Nur ihre Nürnberger Zeit wurde lange vernachlässigt. Dies gilt auch für ihre „Kleinfamilie“ in Nürnberg, also ihren Ehemann, den Architekturmaler, Kupferstecher und Verleger Johann Andreas Graff, und die beiden ebenfalls künstlerisch begabten, fleißigen Töchter.

Johann Andreas Graff war lange Zeit völlig in Vergessenheit geraten. Wahrscheinlich waren die historischen Quellen noch zu wenig erforscht und der Nürnberger Lebensabschnitt der Merianin wurde deshalb in „historischen Romanen“ besonders fantasievoll ausgeschmückt. So wurde aus dramaturgischen Gründen die strahlende Heldin mit einem angeblich unfähigen, leistungsschwachen, trunksüchtigen und manchmal sogar gewalttätigen Ehemann in einer engen und engstirnigen Provinzstadt konfrontiert.

Aber das kann sich nun ändern, denn im Vorfeld des Gedenkens zum dreihundertsten Todesjahr der Merianin kam auch ihr Nürnberger „Lebensabschnittspartner“ ins Blickfeld (siehe unten: Leseprobe zum Aufsatz in den Mitteilungen der Nürnberger Altstadtfreunde 2017). Das Merian-Jubiläumsjahrs 2017 war in Nürnberg zugleich ein Jahr der Wiederentdeckung von Johann Andreas Graff als „Pionier Nürnberger Stadtansichten“. Unmittelbar anschließend an eine sehr sehenswerte Ausstellung „MARIA SIBYLLA MERIAN – Blumen, Raupen, Schmetterlinge“ im Kunstkabinett der Stadtbibliothek Nürnberg fand dort im Frühsommer 2017 eine Ausstellung zum Werk von Johann Andreas Graff statt – die erste Präsentation seiner Kupferstiche und Zeichnungen mehr als 300 Jahre nach seinem Tod. Der umfangreiche Katalog wird weiterhin in einigen örtlichen Buchhandlungen angeboten. Inzwischen ist aus dieser zeitlich begrenzten Präsentation seiner Werke eine permanente virtuelle Doppelausstellung bei Google Arts & Culture entstanden – die erste ihrer Art mit Exponaten aus dem Bestand der Kunstsammlungen der Städtischen Museen Nürnberg.

Johann Andreas Graff kommt aus der Vergessenheit zurück ins Blickfeld und wird – wie zu seinen Lebzeiten – wieder zum „Pionier“ mit seinen Stadtansichten. Die Präsentation seiner Werke in digitaler, überall auf der Welt verfügbarer Form ist der Auftakt zu einer neuen Initiative der Stadt Nürnberg: In Zukunft sollen auch andere Kunstschätze der städtischen Museen weltweit im Netz gezeigt werden.

Ähnlich erging es den beiden Töchtern: Bis zur Ausstellung „Merian & Daughters – Women of Art and Science“ 2008 im Rembrandt Haus in Amsterdam sowie auch im Getty Museum in Los Angeles war wenig über das künstlerische Schaffen der Töchter zusammen mit ihrer Mutter bekannt. Die Kuratorin Ella Reitsma nannte in ihrer großartigen Monographie (7), die ursprünglich in Niederländisch erschien, ein Kapitel „Familiebedrijf“ (8), also: das Familienunternehmen. Während ihrer langjährigen Recherchen ist es der Autorin gelungen, die „Hände“ der Töchter und der Mutter bei Aquarellen voneinander zu unterscheiden, also jeweils eigene, typische Malweisen zu erkennen (9). Leider ist diese bahnbrechende Untersuchung niemals in Deutsch erschienen und in der englischen Übersetzung schon lange vergriffen.

Johanna Helena wuchs in Nürnberg auf, und Dorothea Maria wurde in Nürnberg geboren. Beide Töchter waren die wichtigsten Mitarbeiterinnen ihrer Mutter, die jede auf ihre Weise viel zum erfolgreichen Lebenswerk ihrer Mutter beitrugen. Deshalb werden ihnen hier zwei kleine Kapitel gewidmet, die am Ende dieser Seite angeklickt werden können.

Als Erwachsene haben beide Schwestern in fremden Welten noch intensivere Erfahrungen gesammelt als ihre Mutter auf ihrer zweijährigen Expedition nach Surinam, die gleichzeitig schon das erste große Reiseabenteuer für die junge Dorothea Maria war. Die zeitgenössische Karte unten, gedruckt von der damals europaweit geschätzten Homann Spezialdruckerei (Offizin) in Nürnberg, zeigt, wie weit voneinander entfernt (ca. 9.200 km) die Schwestern mit ihren Familien über Jahrzehnte lebten. Vielleicht haben sie sich nie wiedergesehen. Ob sie noch brieflich miteinander in Kontakt standen, wissen wir nicht.

Für die Nachwelt bleiben sie nicht nur als unersetzbar wichtige Mitarbeiterinnen mit ihrer Mutter verbunden, sondern sogar als eigenständige Künstlerinnen beachtenswert: Johanna Helena als Spezialistin für Pflanzen (10), Dorothea Maria für Tiere (11). Ohne ihre Variationen mit eigenen „Händen“ würde es heute nicht diese Fülle und Vielfalt von „Merianin“-Werken in Museen und Privatsammlungen geben.

Weltkarte der Homannschen Offizin in Nürnberg um 1720 (12)

Künstlerfamilien Merian und Graff

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Johann Andreas
Graff

Johanna Helena
Gräffin

Dorothea Maria
Gräffin

Kirchenbücher mit
Taufe, Heirat, Tod

Roll-up mit
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  1. Details zum Gemälde enthält das gelbe Rechteck neben diesem Familienportrait, Foto Martin P. Bühler. Die in mehreren Veröffentlichungen angegebene Jahreszahl 1641 wird von manchen Fachleuten angezweifelt, weil M. Merian d. J. in diesem Jahr noch auf Reisen war und deshalb kein so aufwändiges Gemälde hätte schaffen können; vgl. z. B. Lit 1949, Pfister-Burkhalter, S. 32; Angabe des Kunstmuseums Basel: Fertigstellung 1642/43
  2. Lex 2014, Stadtlexikon Augsburg, Stichwort: Küsel
  3. MM d. J. um 1685, in: Wackernagel 1895, S. 239: „er über 4000 Fl. baahren Gelts bekommen hatt.“
    Zitat von Matthäus Merian, d. J. aus seiner Autobiografie um 1685)
  4. Lex 2014, Stadtlexikon Augsburg , Stichwort: Kraus
  5. Kun 1997, Augustyn,, S. 808, Fußnote 102
  6. Lit 2020, Merian-Briefe, Brief 5, 3. Juni 1685, an Clara Regina Imhoff, S. 28ff
  7. Ella Reitsma, Maria Sibylla Merian & dochters – Vrouwenlevens tussen kunst en wetenschap, Amsterdam
    – Los Angeles 2008, ISBN 978-90-400-8457-7; Ella Reitsma, Maria Sibylla Merian & Daughters – Women in Art and Science, Amsterdam – Los Angeles 2008, ISBN 978-0-89236-937-9
  8. Lit 2008, Reitsma, Ella, Maria Sibylla Merian & dochters
  9. Ebenda, insbesondere S. 139ff und S. 214ff
  10. Ebenda, S. 185
  11. Ebenda, S. 214
  12. Homann, Johann Baptist, Planiglobii Terrestris … [ca. 1720], Identifikationsnummer der Digitalen Sammlungen Darmstatt / Universitäts- und Landesbibliothek K_W_08; genehmigungsfrei (durch DFG finanziert)
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