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Zeit nach Nürnberg

Maria Sibyllas Nürnberger Werke
Besser dokumentiert ist das Werk von Maria Sibylla in ihrer Nürnberger Zeit: Zusammen mit ihrem Mann als Verleger gibt es fünf Veröffentlichungen, die alle der damaligen Zeit entsprechend ungebunden, sozusagen als „Lose-Blatt-Sammlung“ verkauft wurden. Je nach Wunsch des Bestellers wurden sie zuerst illuminiert (koloriert) oder direkt einem Buchbinder anvertraut. Die Blumenbücher entsprachen im Stil den Blättern, die auch schon Matthäus Merian der Ältere in Frankfurt und dessen Schwiegervater Johann Theodor de Bry in Basel angeboten hatten.

Mit ihren Raupenbüchern, die sie ebenfalls in Nürnberg konzipiert, gestochen und im Textteil durch Buchdrucker hatte setzen lassen, verließ Maria Sibylla bisher gewohnte Pfade. Ihre neuen Kupferstiche zeigen die Entwicklung (Metamorphose) von Insekten, angefangen mit Eiern über Raupen, Puppen bis zu Schmetterlingen oder Käfern und anderen Insekten, zusammen mit den jeweiligen Wirtspflanzen, von denen sich die Raupen ernähren. Diese Darstellung von Ungleichzeitigem auf demselben Blatt musste erklärt werden. Maria Sibylla ergänzte jede Abbildung mit einer ausführlichen Beschreibung auf einem zweiten Blatt – sie wurde zur Sachbuchautorin mit einer neuartigen Kombination von Text und Bild zum Thema der Insektenbeobachtung.
• Erstes Raupenbuch 1679: „Der Raupen Wunderbare Verwandelung und Sonderbare Blumennahrung.“ Auf den unteren Enden der Zweige eines Maulbeerbaums,
die diesen Text einrahmen (Abb. 16), ist – fast versteckt – zu lesen: „Mar-Sibill Gräffin / geb: Merianin“
Es gibt im Raupenbuch keinen lateinischen Text mehr, jeder soll ihre klar und unkompliziert formulierten Texte zu den 50 Kupferstichen verstehen können, auch ihre Schülerinnen, die „Jungfern Combanny“.

Im Vorwort wendet sie sich direkt an die „Hoch=Verehrten Kunst=liebenden Leser“ und verspricht für die Zukunft „… fleissig wieder abzuzeichnen:
Und mir ferner fürgenommen / bey jeglicher Gattung / mit wolgeleister Hülfe meines Eheliebsten / dero nach dem Leben abgemahlte Speisen hinzu zu fügen.“
Die Erwähnung von Hilfe, insbesondere beim Zeichnen der Pflanzen („Speisen“) auf den Entwürfen, ist eine große Ausnahme bei Maria Sibylla. Wenn sie uns überhaupt einen Einblick in ihre Arbeit und ihr Leben gewährt, formuliert sie fast immer in der Ich-Form. Erstaunlicherweise wird sie später
sogar ihre jüngere Tochter als Begleiterin auf ihrer zweijährigen Expedition nach Surinam verschweigen, obwohl diese ihre wichtigste Mitarbeiterin
war. Die schwer erkrankte Mutter hätte die lange, beschwerliche Schiffsreise zurück nach Amsterdam ohne Hilfe der Tochter wohl kaum überlebt.
Ihre Zusage weiterer Insektenbeobachtungen hielt sie, und nur vier Jahre später erschien ihr zweites Raupenbuch, wiederum verlegt von ihrem Mann:
• Zweites Raupenbuch 1683: „Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumennahrung Anderer Theil.“ Unter dem prächtigen Blumenkranz (Abb. 17) nennt sie sich selbst als Kupferstecherin:
„Maria Sibylla Gräffin sculpsit.“
Auch diese weiteren 50 Stiche sind (ohne Texte) wohl im Haus „am Milchmarkt“ gedruckt worden, denn die Universitätsbibliothek Erlangen besitzt ganz seltene Umdruck-Exemplare64 des ersten und zweiten Raupenbuchs, also Abdrucke (Abklatsch, counter print), mit einem speziellen Druckverfahren nicht direkt von den Kupferplatten, sondern vom noch feuchten soeben bedruckten Papier auf ein zweites ebenfalls angefeuchtetes Papier mit nochmaligem Pressen.
Maria Sibylla schätzte diese Umdrucke besonders wegen der feinen Konturen als Grundlage zum Illuminieren. Dieses Umdruckverfahren war zu ihrer Zeit noch nicht verbreitet, erforderte große Sorgfalt und eine besonders ausgewogene Komposition ohne jeglichen Text, weil die Ergebnisse der Druckerpresse immer spiegelbildlich sind.
Für die Textteile, die außer Haus vergeben wurden, sind zwei verschiedene Drucker genannt, die beide nach Nürnberg zugewandert waren, und die ganz unterschiedliche Startbedingungen hatten. Beide sind ein gutes Beispiel für die Bandbreite von Chancen und Risiken für Zuwanderer in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts:
• Erstes Raupenbuch: „Gedruckt bey Andreas Knortzen / 1679“
Knortz aus Kulmbach bemühte sich mehrere Jahre lang vergeblich um die Genehmigung einer eigenen Druckerei (= Offizin) in Nürnberg. Erst als der kaiserliche Hof in Wien seinen Antrag annahm und für die Umsetzung ein Ultimatum setzte, gab der Nürnberger Rat seinen Widerstand gegen diese unerwünschte Konkurrenz für die heimischen Drucker auf und ließ ihn ab Ende 1676 drucken. Allerdings gefielen dem Rat einige seiner Druckerzeugnisse nicht (z. B. über den Deutschen Ritter-Orden oder einen englischen Wahrsager), manches wurde konfisziert, und Knortz wurde auch mit kurzfristiger Turmhaft bestraft.
Der Druckauftrag von Graff-Merianin für ein Buch, das keinen religiösen Anstoß erregen konnte, kam in dieser schweren Anfangszeit wohl gelegen. Nach seinem Tod führten seine Witwe und sein Sohn die Offizin noch mehr als 20 Jahre weiter.
• Zweites Raupenbuch: „Gedruckt durch Joh. Michael Spörlin / 1683“
In der Literatur wird meistens davon ausgegangen, dass das zweite Raupenbuch in Frankfurt gedruckt wurde, weil die Graff-Merianin-Familie 1683 schon nach Frankfurt umgezogen war. Tatsächlich war jedoch die Spörlin-Werkstatt in Nürnberg, und hier wurde gedruckt.
Als Sohn eines Frankfurter Druckers kam Spörlin nach Nürnberg und heiratete 1682 die Witwe eines Nürnberger Druckers. Dies war der einfachere Weg für einen Zuwanderer zu einer eigenen Werkstatt. Spörlin hatte offensichtlich keinen solch schweren Start wie Knortz. Der Rat und die Konkurrenten
ließen Gesellen, die eine Meisterwitwe heirateten und dadurch versorgten, meistens die Werkstatt weiterführen. Witwen durften sogar selbst für eine gewisse Zeit eine Werkstatt leiten, wenn Aussicht auf einen Sohn als späterem Nachfolger bestand – so auch die zweite Frau von Spörlin, die er nach dem Tod seiner ersten Frau geheiratet hatte und die ihn überlebte.
Maria Sibylla war durch ihren Ehemann sowie den großen Freundes- und Bekanntenkreis so gut integriert, dass sie keine Repressionen befürchten
musste. So ist es unverständlich, wieso in der Literatur immer wieder behauptet wird, nach der Nürnberger Malerordnung wäre es ihr wie allen anderen Frauen verboten gewesen, in Öl zu malen. Tatsächlich enthält keine der Malerordnungen (weder 1596 noch1656)70 einen
solchen Passus. Joachim von Sandrart erwähnt in seiner Teutschen Akademie ausdrücklich ihre „Zeichen-Kunst und Mahlen mit Oel“ – hätte er dies preisgegeben, wenn er sie (und ihren Mann als verantwortliches Familienoberhaupt) dadurch beim Nürnberger Rat angeschwärzt hätte?
Geschichtlich nicht zu verankern ist die Meinung von Autoren, dass Maria Sibylla in Nürnberg eine Anklage als Hexe hätte befürchten müssen.
Dies entspricht nicht der damaligen Nürnberger Lebenswirklichkeit: In dieser Stadt hat es vergleichsweise wenige Prozesse wegen angeblicher Hexerei gegeben.72 Sie betrafen meist wenig gebildete Frauen aus dem Umland (kaum Nürnbergerinnen), und vereinzelt wurde sogar gegen Männer Anklage erhoben. Die Verfahren endeten selten mit einer Hinrichtung – wobei schwere Folterungen zur Erzwingung von falschen Geständnissen keineswegs verschwiegen werden dürfen. Obwohl die Akten inzwischen gründlich ausgewertet wurden, sind keinerlei Spuren irgendeines Hexenprozesses in Nürnberg in dem Zeitraum gefunden worden, in dem Maria Sibylla in Nürnberg lebte.
In Nürnberg galt ihr Interesse an Insekten auch nicht als „sündig“, denn Raupen wurden keineswegs als „Teufelgewürm“ verabscheut. Im Gegenteil,
Naturwissenschaft und Ehrfurcht vor Gottes wunderbarer Schöpfung, die auch den kleinsten, unscheinbarsten Geschöpfen gilt, entsprach dem Lebensgefühl der Nürnberger Stadtgesellschaft. Schon deshalb hatte Maria Sibylla in Nürnberg keine Anklage zu befürchten. Der geachtete Professor
Christoph Arnold, Lehrer am Egidiengymnasium, Diakon der Frauenkirche, fünftes Mitglied „Lerian“ des Pegnesischen Blumenordens, hat durch zwei
namentlich gekennzeichnete Gedichte, die im ersten Raupenbuch abgedruckt wurden, diese Arbeit quasi mit einem Gütesiegel versehen.
Direkt nach dem Titelkupfer und Titelblatt stellt er die Autorin in einem Gedicht in eine Reihe mit den berühmtesten Insektenforschern des 16. und
17. Jahrhunderts, die bereits vor Maria Sibylla publiziert hatten. Er zeigt dabei auch, wie viele englische, niederländische, italienische und spanische Werke in Nürnberg bekannt waren. Denn ihm waren nicht nur die Namen geläufig, sondern er hatte selbst mehrere Werke dieser Autoren in seiner ca. 9.500 Drucke umfassenden Privatbibliothek. Hierzu gehörten auch naturwissenschaftliche Werke mit Abhandlungen über Pflanzen und Tiere.
Zweifellos kannte Maria Sibylla diesen Bücherschatz und hat sich die Seiten mit Abbildungen von Insekten und Spinnen intensiv angeschaut. Dabei
war es für sie wohl kaum ein Problem, dass viele Texte in Latein abgefasst waren. Denn ihr sprachkundiger und weitgereister Mann konnte sie ihr
fließend in deutscher Übersetzung vorlesen.
Besonders bemerkenswert ist, wie Arnold die Leistung einer Frau lobt.
Schon zu Beginn des Gedichts heißt es:
Es ist Verwunderns werth / dass ihnen auch die Frauen
dasjenige getrauen zu schreiben / mit Bedacht /
was der Gelehrten Schaar so viel zu thun gemacht.
In der Mitte steht als zentrale Aussage:
Jedoch ist Lobenswerth /daß ihnen (= den männlichen Forschern)
eine Frau es gleich zu thun begehrt. …… daß ein kunstreiches Weib
diß alles selbst geleist / zu ihrer Zeit=vertreib. …..
Nach den 50 Kupferstichen und den zusätzlichen 50 Blättern mit Beschreibungen ist noch ein Gedicht mit sieben Strophen75 angefügt. Vor allem in seinem letzten Vers (Abb. 18) spiegelt es in tiefer Frömmigkeit den religiösen Bezug wider, der in Nürnberg sowohl für Lutheraner als auch für die Minderheit der zugewanderten Reformierten bzw. Calvinisten galt: Als Zwischenbilanz ist festzuhalten, dass Maria Sibylla unter den gegebenen
familiären Verhältnissen für ihre ersten Veröffentlichungen zur Insektenbeobachtung wohl kaum in einer anderen Reichsstadt inspirierendere Arbeitsbedingungen hätte vorfinden können. Aber es fehlt noch eine weitere Besonderheit Nürnbergs, die unbedingt beschrieben werden muss, um das Spektrum der „Standortvorteile“ abzurunden.

Erstes Blumenbuch

Florum Fasciculus Primus

1675

1675: Erste Ausgabe des „Blumenbuchs“ = Florum Fasciculus Primus
mit 12 Kupferstichen, die sich gut zum Illuminieren und Nachsticken für fleißige Jungfern eigneten.

Zweites Blumenbuch

Florum Fasciculus Alter

1677

Nam ei eirmod consequuntur, quod nostrum cons ectetuer usu ut. Vim veniam singulis satenserit an, sumo consul mentitum duo ea. Copiosae antiopam.

1677: Fortsetzungsausgabe des „Blumenbuchs“ = Florum Fasciculus Alter

Anscheinend war die Nachfrage so erfreulich groß, dass sich weitere 12 Kupferstiche lohnten.

Drittes Blumenbuch

Florum Fasciculus Tertius

1680

1680: „Das Neue Blumenbuch“ = Florum Fasciculus Tertius enthielt 12 neue Kupferstiche, und gleichzeitig wurde als „Neues Blumenbuch“ eine Gesamtlieferung aller 36 Kupferstiche angeboten.

Erstes Raupenbuch

Florum Fasciculus Alter

1679

Nam ei eirmod consequuntur, quod nostrum cons ectetuer usu ut. Vim veniam singulis satenserit an, sumo consul mentitum duo ea. Copiosae antiopam.

Erstes Raupenbuch 1679: „Der Raupen Wunderbare Verwandelung und Sonderbare Blumennahrung.“

Auf den unteren Enden der Zweige eines Maulbeerbaums, die diesen Text einrahmen (Abb. 16), ist – fast versteckt – zu lesen: „Mar-Sibill Gräffin / geb: Merianin“

Zweites Raupenbuch

Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumennahrung Anderer Theil

1683

Auf dem Titelblatt ihres zweiten Raupenbuchs sehen wir, wie genau die Merianin viele verschiedene Blumen, Schmetterlinge, Käfer und andere Insekten beobachtete. Sie hat alles selbst gezeichnet und für den Druck in die Kupferplatte gestochen (lateinisch: sculpsit).

Unter dem prächtigen Blumenkranz nennt sie sich selbst als Kupferstecherin: „Maria Sibylla Gräffin sculpsit.“

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