Blütezeit der Bürgerstadt
Der Dreißigjährige Krieg war ein tiefer Einschnitt in die Stadtentwicklung. Die Stadt war zwar nicht erobert worden, aber nur um den Preis großer finanzieller Kriegskontributionen: Viele Menschenleben waren durch Seuchen zu beklagen, Wirtschaft und Kultur hatten schwer gelitten. Trotzdem erholte sich die Stadt schnell nach dem Westfälischen Frieden 1648: Ein Jahr lang tagte der Friedensexekutionskongress in Nürnberg, um die Demobilisierung der Truppen, Zahlung von Abfindungen und andere wichtige Details zu klären. Diplomaten mit ihren Delegationen nahmen Wohnung in der Stadt, benötigten Verpflegung und neue elegante Bekleidung, sie ließen ihre Portraits in Öl malen oder in Kupfer stechen, sie feierten viele Feste. Das alles war ein wirksames wirtschaftliches und kulturelles Konjunkturprogramm (umfassender als ein Marschallplan).
Als die jungen Eheleute Graff 1668 mit einem noch sehr kleinen Säugling nach Nürnberg kamen, wehte ein frischer Wind in dieser Stadt. Wahrscheinlich hat die Nürnberger Stadtgesellschaft das Einleben erleichtert, weil Zuwanderer in diesem Zentrum der Zeichner, Maler, Kupferstecher, Buchdrucker und Illuminatoren schon in der ersten Generation Fuß fassen konnten. Diese positive Entwicklung setzte sich bis in die letzten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts fort, auch wenn manche qualifizierten Zuwanderer Anfangsschwierigkeiten überwinden mussten. Die Drucker des Ersten und Zweiten Raupenbuchs (1679 und 1682), Andreas Knortz aus Kulmbach und Michael Spörlin aus Frankfurt, sind interessante Beispiele für die Chancen und Risiken solcher „Neubürger“ (vgl. Kapitel über die Nürnberger Werke der Merianin).
Im lutherischen Nürnberg war es nicht ungewöhnlich, dass Frauen als Malerinnen, Stickerinnen oder Lehrerinnen von Mädchen arbeiteten. Müßiggang galt als Laster, und auch Mädchen in den oberen Schichten der Gesellschaft sollten etwas Nützliches lernen. Maria Sibyllas „Jungfern-Combannÿ“ (Mädchen-Kompanie) waren Töchter aus den Ratsfamilien, wie z.B. Clara Regina Imhoff, sowie aus Handel und Handwerk, wie z.B. eine Tochter des Kunsthändlers und Verlegers Paul Fürst.
Viele Nürnberger waren neugierig auf alles, was mit Natur und Pflanzen zusammenhing, und sie waren bereit, dafür Geld auszugeben. Das schloss auch die auf ihnen lebenden, summenden und flatternden Lebewesen ein. Deshalb galt hier das Interesse der Merianin an Raupen nicht als „sündhaft“ und Raupen wurden keineswegs als „Teufelsgewürm“ verachtet. Präparierte Schmetterlinge waren ein attraktiver Bestandteil von Privatsammlungen in Wunderkammern.
Die Wissenschaft und die Ehrfurcht vor Gottes wunderbarer Schöpfung, auch vor den kleinsten und unbedeutendsten Geschöpfen, entsprachen in hohem Maße dem Lebensgefühl der Nürnberger Stadtgesellschaft. So brauchte Maria Sibylla in Nürnberg nicht zu befürchten, für ihre Insektenforschung verfolgt zu werden. Im Gegenteil, ihre Arbeit wurde unterstützt.
Besonders „sprechende“ Beispiele für die Anerkennung und Bewunderung der Nürnberger Stadtgesellschaft sind die Gedichte ihres Mentors Professor Christoph Arnold in beiden Raupenbüchern. In ihrem ersten Raupenbuch finden wir direkt nach dem Titelkupfer und dem gedruckten Titelblatt ein solches Gedicht. Dort stellt Arnold die Autorin auf eine Stufe mit den berühmtesten Insektenforschern des 16. und 17. Jahrhunderts, die vor Maria Sibylla publiziert hatten.
Portrait von Christoph Arnold (1)
„Es ist verwundernswert / dass ihnen auch die Frauen
dasjenige getrauen / zu schreiben mit Bedacht.
was der Gelehrten Schaar / so viel zu thun gemacht.“
Mit dieser zentralen Aussage stempelt er quasi ein Gütesiegel auf Merians Werk, das viel zu ihrer Anerkennung in Nürnberg beiträgt:
„Jedoch ist lobenswert / daß ihnen eine Frau es gleich
zu thun begehrt / …… daß ein kunstreiches Weib
dies alles selbst geleist / zu ihrer Zeitvertreib.“
Zu Beginn der 1680er Jahre hatten sich sowohl Maria Sibylla zur Blumen- und Raupenspezialistin als auch ihr Mann zum Pionier von Stadtansichten entwickelt. Für beide bestanden gute Aussichten auf eine erfolgreiche, gesicherte Zukunft. Für die Familie Graff-Merianin ging jedoch die Nürnberger Zeit nach dem Tod des Familienoberhaupts Jacob Marrell in Frankfurt im November 1681 unerwartet schnell zu Ende. Seine unversorgte und gealterte Witwe, die Mutter der Merianin, benötigte Hilfe und Maria Sibylla kehrte mit Mann und Töchtern 1682 nach Frankfurt zurück.
Das anhaltende Wohlwollen gegenüber der „Nürnbergerin auf Zeit“ kommt auch im Zweiten Raupenbuch in einem Gedicht von Arnold zum Ausdruck, das wie ein Abschiedsgruß klingt.