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Glückliche Umstände

Historische Spuren zum Garten von Merianin und Graff auf der Nürnberger Kaiserburg

Eine wechselvolle Geschichte mit zwölf Weichenstellungen

1.
Umzug der jungen Graff-Merian-Familie von Frankfurt nach Nürnberg

Johann Andreas Graff, ein begabter Architekturmaler und Kupferstecher, arbeitet in der Frankfurter Werkstatt seines Lehrherrn Jacob Marrell, der mit der Witwe von Matthäus Merian d. Ä. verheiratet ist und in deren Haushalt Maria Sibylla Merian aus ihrer ersten Ehe mit Matthäus Merian d. Ä. lebt. 1665 heiraten der 29-jährige Graff und die 18-jährige Stieftochter von Marrell. 1668 kehrt Graff mit seiner jungen Frau, die 20 Jahre lang „Maria Sibylla Gräffin“ heißen wird, und der im selben Jahr geborenen Tochter Dorothea Maria in seine Heimatstadt Nürnberg zurück. Wahrscheinlich hofft das Ehepaar dort auf bessere Existenzbedingungen nach dem großen wirtschaftlichen Einbruch des 30-jährigen Kriegs.

2.
Karrierestart von Maria Sibylla

Tatsächlich gelingt es der jungen Ehefrau, neben der Haushaltsführung durch viele unterschiedliche Tätigkeiten wie Malen, Zeichnen, Sticken und Herstellung von Farben zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Sie kann sogar junge Mädchen im Zeichnen, Malen und Sticken unterrichten – ungewöhnlich für eine Frau in ihrer Zeit. Sie wird schnell zu einer geachteten Künstlerin. Noch während ihrer Nürnberger Zeit wird sie von Joachim von Sandrart in seiner „Teutschen Academie“, einer umfassenden, viel gelesenen Künstler-Enzyklopädie, gewürdigt.

3.
Ein eigener Garten für die Familie

Eine ihrer Lieblingsschülerinnen aus dem Nürnberger Patriziat wird für ihren weiteren Lebensweg wichtig: Diese hat einen Großonkel, der als Vorderster Losunger (Bürger­meister) und Vestenpfleger den Graffs einen Garten zur Verfügung stellen kann. In diesem Garten macht Maria Sibylla eine besondere Entdeckung: „Hochrothe Käferlein“ wecken ihr besonderes Interesse, obwohl diese Käfer auf den ersten Blick unscheinbar und von Gartenfreunden als Schädlinge gefürchtet sind. Durch ihre Beziehungen zu einflussreichen Nürnberger Familien erhält Maria Sibylla auch Zugang zu vielen anderen Gärten, um genug Material für ihre Naturbeobachtungen zu sammeln.

4.
Erwähnung des Gartens im II. Raupenbuch

Tatsächlich gelingt es ihr, im Familienhaus „Zur goldenen Sonne“, heute der Bergstr. 10, trotz der Belastung mit vielen „Teilzeit-Tätigkeiten“ ihre Blumenbücher und die beiden Raupenbücher zu erarbeiten, wobei sie ihr Ehemann Graff finanziell und tatkräftig als Kupferstecher und Verleger unterstützt. Im II. Raupenbuch ist die Metamorphose (Ei, Raupe, Puppe, Käfer) zusammen mit der „Goldgelben Lilie“ als Wirtspflanze abgebildet und beschrieben (Nr. XXI). Sogar der Fundort ist – allerdings ohne genaue Ortsangabe – bezeichnet: „in meinem Garten“.

Diese Zeit in Nürnberg endet abrupt nach dem Tod des zweiten Ehemannes von Maria Sibyllas Mutter, ihrem eigenen Ziehvater Jacob Marrell. Offensichtlich fühlt sich das Ehepaar Graff verpflichtet, der verwitweten und unversorgten Mutter in Frankfurt beizu­stehen. Zwischen 1683 und 1885 pendelt Graff zwischen Frankfurt und Nürnberg, wo er durch Arbeiten für private Auftraggeber Geld verdienen kann. Die weitere Geschichte dieser Ehe und Trennung steht auf einem anderen Blatt und hat wahrscheinlich mehrere Ursachen, die heute nicht mehr eindeutig zu klären sind.

5.
Verortung des Gartens im Studienbuch

Maria Sibylla bleibt nicht in Frankfurt, sondern zieht zusammen mit der Mutter zum Halbbruder Caspar Merian in eine fromme, urchristlich orientierte Lebensgemeinschaft, die Labadisten im niederländischen Westfriesland. Dort im abgelegenen Schloss Waltha findet Maria Sibylla Zeit, ihre Musterzeichnungen neu zu ordnen und zu beschriften.
Nur in diesem eigenen gezeichneten und handgeschriebenen Studienbuch beschreibt sie die Lage des Nürnberger Gartens:

Alß ich im Anfang July, einmal in meinen Garten  (neben der Schloßkirchen oder keyserlichen Schloß=Capell in Nürnberg) so wohl die Blumen zu besehen, alß die Raupen zu suchen, hinauf gienge, fand ich ….“

Mit dieser doppelten Nennung „neben der Schloßkirchen / Keyserlichen Capell“ ist das Rätsel gelöst: Es kann sich nur um den kleinen Garten handeln, der direkt an den Turm der Kaiserkapelle angrenzt (heute „Heidenturm“ genannt).

6.
Bedeutung des Studienbuchs

Dieses Studienbuch führt sie auch nach ihrer Surinam-Expedition weiter und behält es bis zu ihrem Tod in Amsterdam (1717) offenbar als unerlässliche Motivsammlung für ihre hochwertigen Malereien auf Seide und Pergament. Durch persönliche Angaben darüber, wo, wann, mit wem sie ihre Funde machte und wie die Aufzucht gelang, ist das Studien­buch auch die wichtigste autobiographische Quelle zu ihrem Leben, über das sie sonst weitgehend Stillschweigen wahrt.

7.
Verkauf des Studienbuchs nach St. Petersburg

1716/1717 besucht Zar Peter der Große ein zweites Mal Amsterdam und beauftragt seinen Leibarzt, einen hoch gebildeten Schotten, Kunstwerke für seine Sammlungen in seiner neuen Residenz St. Petersburg zu erwerben. Dieser Arzt, Robert Areskin (Erskin), kauft für seine eigene Sammlung das Studienbuch aus dem Nachlass von Maria Sibylla und vermacht es dem Zaren. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter übersiedelt die zweite Tochter Dorothea Maria (geb. 1678 in Nürnberg), die schon die Mutter auf die Expedition nach Surinam begleitet hatte, mit ihrem Ehemann Georg Gsell nach St. Petersburg. Dort trägt sie als „Gsellscha“ viel zur Entwick­lung von Wissenschaft und Kunst bei, z. B. durch den Aufbau des ersten öffentlichen Museums u. a. mit 254 Aquarellen ihrer Mutter und dem dort aufbewahrten Studienbuch.

8.
Fund des verschollenen Studienbuchs

Nachdem es lange Zeit in Vergessenheit geraten war, wird das äußerlich unscheinbare Buch 1939 in der Handschriftenabteilung der Bibliothek der Akademie der Wissen­schaften, Abteilung „Manu Picta“, wieder gefunden. Trotz jahrelanger Belagerung und Bombardement Leningrads durch die deutsche Armee im II. Weltkrieg können die verantwortlichen Museumsfachleute das Studienbuch bewahren.

9.
Veröffentlichung des Studienbuchs 1976

Auf Initiative des jungen Direktors des Leipziger Naturkundemuseums, Dr. Wolf-Dietrich Beer, gelingt zu DDR-Zeiten eine ungewöhnliche Kooperation: Die ‚Edition Leipzig Verlag‘ darf zusammen mit dem ‚Reich Verlag Luzern‘ ein mustergültiges Faksimile des Originals aus Leningrad herstellen. Nur deshalb können wir heute in einem der weltweit 1825 Exemplare den handschriftlichen Vermerk von Maria Sibylla und damit den Beweis für die Verortung ihres Gartens in Nürnberg nachlesen.

Die Tatsache, dass die Graff-Merian-Familie in Nürnberg über einen Familiengarten verfügte und der historische Nachweis beruhen auf einer unglaublichen Verkettung glücklicher Umstände. Immer wieder hing die Bewahrung der Quelle an einem „seidenen (Raupen-)Faden“. 

10.
Der verschlossene Verwaltergarten – ein vergessenes historisches Erbe

Zeichnungen und Stiche belegen, dass der kleine Garten neben der Kaiserkapelle schon lange vor der Zeit des Graffschen Familiengartens bestand. Später hieß er „Burgver­waltergarten“ und wurde vom jeweiligen obersten Burgbeamten privat genutzt. Etliche Fotos im Stadtarchiv zeigen diese öffentlich nicht zugängliche Idylle. Im II. Weltkrieg werden der Garten und die stadtseitige Gartenmauer durch einen Bombentrichter verwüstet. Das ebenfalls historische zweistöckige Gartenhaus (schon auf einem Dürer-Stich von 1514 zu erahnen) übersteht wie durch ein Wunder die Luftangriffe mit nur leichten Beschädigungen, die bald behoben werden. Dabei wird im Erdgeschoss die offene, mit einer Holzbrüstung (Docken-Balustern) geschmückte Loggia durch eine Fachwerkfront mit zwei Fenstern ersetzt.

11.
Geplante Wiedereröffnung als „Hochzeitsgärtlein“

2012/13 stellt die bayerische Staatsregierung die erforderlichen Mittel für ein großes Investitionsprogramm zur generellen Aufwertung der Kaiserburg zur Verfügung. Heiraten auf der Burg wird ein neues Angebot: Nach einer standesamtlichen Trauung in einem stilvollen „Hochzeitszimmer“ soll der geschilderte Garten als „Hochzeitsgärtlein“ die besondere Attraktion für Familienfotos vor dem malerischen Stadtpanorama und für private Empfänge werden.

12.
Gestaltung des Gartens als Erinnerungsort an Maria Sibylla Merian

Nach dem Hinweis einer Stadtführerin ändert der zuständige Finanzminister der Bayeri­schen Staatsregierung den geplanten Namen und erläutert in einer Pressekonferenz Ende Juli 2012 das Konzept der Gestaltung des zukünftigen „Merian-Gartens“.
Wenige Wochen später stimmt er auf Bitten aus der Nürnberger Bevölkerung zu, den Namen um die beiden Vornamen in „Maria Sibylla Merian-Garten“ zu erweitern. Seit dem großen Burgfest Mitte Juli 2013 ist das Gärtlein sonntags und montags jeweils von 14 bis 18 Uhr von April bis einschließlich Oktober (Stand 2014) zu besichtigen. Ein Guckloch in der Eingangstür ermöglicht ganzjährig einen Blick in diese Oase während der allgemeinen Burg-Öffnungszeiten.

Es ist der schönste authentische Platz auf der Welt für einen öffentlichen Maria-Sibylla-Merian-Garten, der mit „ihren“ Pflanzen gestaltet ist – sogar mit einigen tropischen Gewächsen in einem windgeschützten, sonnigen Bereich des 170 qm kleinen Gärtleins. Eine historische Rekonstruktion war unmöglich, weil es keine Unterlagen aus ihrer Zeit über den Garten gibt. So erinnert die moderne Gestaltung mit einer Wasserstelle und mehreren Sitzmöglichkeiten an ein kleines Land-Art-Monument, das durch seine diagonale Ausrichtung den Horizont erweitert. Der Blick wird über die Stadt hinaus in die Weite gelenkt, so wie Maria Sibylla und ihre Töchter von Nürnberg aus in die Welt nach Amsterdam, Paramaribo und St. Petersburg aufbrachen.

1608: Blick in den Burghof auf den Zaun des Gärtleins am Fuß des Turms der Kaiserkapelle

19. Jahrhundert: Das Gärtlein hinter der Gartenmauer am linken Bildrand

1945: Das unzerstörte Gartenhaus am rechten Bildrand (Pfeil) vor der Silhouette der Burgruine

Nachkriegszeit: Gartenhaus im Umbau zum „Tiny House“ links am Fuß des Kapellenturms

Probeschild für den neu gestalteten Garten

Gartenarchitekt Sven-Patric Klameth

Gestaltungsplan für das Gärtlein

Das Gartenhaus vor der Silhouette der Kaiserkapelle und Kaiserburg

„Maria-Sibylla-Merian-Garten“ über dem Nürnberger Häusermeer

Blick aus dem Gärtlein auf die Spitze des Sinwellturms zwischen den Bäumen

Blick über die Dächer auf die 600 Jahre alte Fachwerkfassade der Bergstraße 10

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