Johanna Helena Gräffin (1668-1728)
Johanna Helena kam kurz nach ihrer Geburt nach Nürnberg, als ihre Eltern von Frankfurt hierher umzogen. Die ältere Tochter hat ihre kunsthandwerkliche „Grundausbildung“ zweifellos von beiden Elternteilen noch in Nürnberg und Frankfurt erhalten. Sie hat die Zeit bei den Labadisten bewusst erlebt und vermutlich nicht so sehr unter der dortigen strengen Erziehung gelitten wie ihre jüngere Schwester. Denn sie lernte dort einen jungen Mann kennen, der sich der unerbittlichen Strenge von Pierre Yvon nicht beugte, obwohl er als „Bruder“ zu den Erwählten gehörte: Jacob Hendrik Herolt (~1660-1715) aus Bacharach (1) sagte sich sogar schließlich von den Labadisten los und wurde ein erfolgreicher Kaufmann in Amsterdam mit Handelsbeziehungen und Reisen nach Surinam. (2)
Nach der Übersiedlung der Mutter mit ihren Töchtern von Waltha nach Amsterdam wurde Ende Juni 1692 das Aufgebot von Johanna Helena und Jacob Hendrik am Amsterdamer Rathaus angeschlagen. Der Hochzeit stand nichts mehr im Wege – bzw. der Legalisierung der bereits bei den Labadisten geschlossenen Ehe, die in Amsterdam noch einmal amtlich besiegelt werden musste, um als rechtsgültig anerkannt zu werden. (3)
Johanna Helena entwickelte stilistische Eigenheiten, die wir in Anlehnung an Ella Reitsma als „eigene Hand“ erkennen können: Ihre Aquarelle sind kühner, dreidimensionaler als die ihrer Mutter. (4) Ob sie diese Illusion von Tiefe in ihren Blättern noch von ihrem Vater, dem Meister des perspektivischen Zeichnens, gelernt hat?
Die Blumenmotive der Tochter wirken oft so lebendig, weil sie über die Rahmenlinie hinauswachsen, so wie diese Passionsblume, die zu einer Serie von 49 Werken auf Pergament gehört. Sie werden im Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig aufbewahrt und dort als Gouachen bezeichnet, wobei die Grenze zu Aquarellen von den Fachleuten meist als fließend eingestuft wird. (5) Diese Meisterwerke, zu denen sie selbst ein Verzeichnis geschrieben und auf 1698 datiert hat, sind teilweise von ihr selbst signiert. Sie sind faszinierende Beispiele ihrer künstlerischen Begabung. (6)
Manche Motive sind auch in anderen Sammlungen zu finden. Ella Reitsma wirft in diesem Zusammenhang die Frage nach der wertmäßigen Unterscheidung zwischen Original, Replik und Kopie auf. Es wäre falsch, bei dem Familienunternehmen „Merian“ abwertend von Serienproduktion zu sprechen, obwohl wichtige Teile des Haushaltseinkommens – den Kundenwünschen entsprechend – auf der Wiederholung beliebter Merianin-Motive (7) und auf der Kolorierung von Raupenbüchern beruhten.
Blaue Passionsblume (8)
Serpentaria mit Schmetterlingen (9)
Johanna Helena hat als Malerin Aufträge für ihre Mutter übernommen. Diese „Variationen“ der Tochter haben jedoch ihren ganz eigenständigen Wert. Der Terminus „Variation“ wird hier bewusst in Analogie zu einer in der Musik geschätzten Gestaltungsform verwendet. Manchmal gelangen ihr sogar faszinierende Kompositionen, wie wir sie von ihrer Mutter nicht kennen. (10)
Johanna Helena blieb der Arbeitsgemeinschaft mit Mutter und jüngerer Schwester weiter verbunden, auch als um 1700 ihre Tochter (Maria) Abigail in Amsterdam geboren wurde. (11) Jacob Hendrik Herolt konnte seine Schwiegermutter wegen seiner weiten Reisen und guten Ortskenntnisse auch hilfreich bei der Vorbereitung ihrer Expedition nach Surinam beraten. Vielleicht hatte ihn sogar seine Frau Johanna Helena auf einer dieser Reisen in den 1690er Jahren begleitet. (12) Die Expedition der Merianin nach Surinam ging also nicht ins Ungewisse.
Es besteht kein Zweifel, dass Johanna Helena ihrer Mutter nach deren Rückkehr aus Surinam auch bei dem großformatigen Mammutwerk mit Kupferstichen von Pflanzen und Tieren in den Tropen geholfen hat: Die ersten Drucke von einzelnen Folioblättern der „Surinamischen Insekten“ wurden schon verkauft, bevor das gesamte Buch vollständig fertiggestellt war. Insbesondere als kolorierte Umdrucke sind sie kaum von gezeichneten Unikaten zu unterscheiden. (13) Ella Reitsma sieht Johanna Helena sogar als Schöpferin der kraftvollsten Kompositionen der Vorlagen für einige Kupferstiche. (14)
Als das Werk 1705 nach vierjähriger intensiver Arbeit als „Krönungswerk“ (15) der Merianin erschienen war, gab es wieder viel Arbeit beim Kolorieren – damals „Illuminieren“ genannt – mehrerer noch ungebundene Exemplare, mit denen ein viel höherer Preis erzielt werden konnte als mit den Schwarz-Weiß-Drucken. Nur wenige dieser „altkolorierten“ Umdrucke sind bis heute erhalten und sie zählen zu den wertvollsten Druckwerken aus der „Merian-Werkstatt“.
Johanna Helena ist vermutlich um 1711 mit ihrer Tochter Maria Abigail und ihrem Mann dauerhaft nach Surinam ausgewandert, wo er nicht nur als Kaufmann, sondern auch als einer der Rektoren des Waisenhauses in Paramaribo mit Aufsicht über das Erbe von Waisen tätig war. (16) Von dort aus war sie weiter für die Merian-Familienfirma in Amsterdam tätig – das wissen wir, weil ihre Mutter 1712 in einem Brief an einen Kunden mitteilte, sie habe von dieser Tochter surinamische Insekten und andere Tierpräparate zum Verkauf erhalten. (17) In den bis heute erhaltenen Briefen der Merianin konnten keine Hinweise dafür gefunden werden, dass Johanna Helena in Surinam auch weiterhin malte, aber ihre Mutter hätte dies in ihren Briefen nicht verraten. Die Merianin achtete als Geschäftsfrau sehr auf Qualität, aber ihre Kunden brauchten nicht zu wissen, wenn neue „Merian-Aquarelle“, die sie zum Verkauf anbieten konnte, von ihrer Tochter gemalt und aus Surinam eingetroffen waren. Etliche Aquarelle, die dem Stil der Tochter entsprechen, sind unsigniert oder mit dem Namen der Mutter signiert.
Ein Hinweis auf die weitere Zusammenarbeit ist auf dem Titelblatt des dritten Raupenbuchs (1717) zu finden: Für die Zukunft wurde ein zusätzlicher „Appendix“ (Anhang) von Johanna Helena Herolt angekündigt und in der Vorrede versprach die jüngere Schwester als Herausgeberin neue Abbildungen mit tropischen Insekten, beobachtet von ihr (Johanna Helena), die derzeit in Surinam lebe. (18) Für Ella Reitsma sind diese Sätze der Beweis dafür, dass Johanna Helena „was still in the business“. (19) Diese Erweiterung ist nie erschienen und es wird für immer ungeklärt bleiben, ob solche kostbaren Vorlagen mit einem gekenterten Segelschiff nach Amsterdam untergingen oder ob sich nach der Auswanderung der jüngeren Schwester nach Russland in Amsterdam niemand mehr darum kümmern konnte.
1728 starb Johanna Helena als Witwe in Paramaribo. (20) Sie hatte zahlreiche Enkel, von denen vier zu ihren Lebzeiten geboren wurden. (21).
Bei den Petersburger Merian-Aquarellen gibt es etliche Darstellungen tropischer Pflanzen ohne die – für die Merianin typischen – vier Stadien der Metamorphose. Sie deuten in ihrem lebhaften, „barocken“ Stil eher auf Johanna Helena als auf ihre Mutter als Künstlerin und sie können sogar noch nach dem Tod von Johanna Helena in Amsterdam eingetroffen sein: Die jüngere Tochter Dorothea Maria reiste mit Erlaubnis und im Auftrag des Zaren 1734 noch einmal von St. Petersburg nach Amsterdam, um Kunst für die Akademie zu erwerben. (22) Vielleicht gehörten die 30 Zeichnungen, die Dorothea Maria damals nach St. Petersburg brachte (23), ursprünglich nicht nur zum Nachlass ihrer älteren Schwester, sondern waren sogar (teilweise?) von Johanna Helena gemalt worden. Das ist wahrscheinlicher, als dass solch fragile Originale ihrer Mutter mehr als 20 Jahre im tropischen Klima bewahrt und den Gefahren eines Hin- und Rücktransports ausgesetzt wurden.
Für Stilvergleiche der „Hände“ von Mutter und Tochter eröffnet sich hier ein weites Feld. Ansatzweise wurde dies bereits für Aquarelle in der Monographie von Ella Reitsma (24) und zusätzlich für kolorierte Umdrucke in einer Ausstellung von Merian-Werken aus der Royal Collection in der Londoner Queen’s Gallery 2016 thematisiert. (25)